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Jimi Hendrix © Sony

Auf vier CDs dokumentiert "Winterland" sechs Livekonzerte der Jimi Hendrix Experience innerhalb von nur drei Tagen im Oktober 1968. Das Ergebnis bietet nicht nur eine Fülle großartiger Musik, sondern erlaubt auch einen tiefen Einblick in die Schaffensweise des größten Rockgitarristen aller Zeiten.

Von älteren wie jüngeren Musikfans wird die junge Popmusikszene der 1960er häufig verklärt oder idealisiert. Dabei ist es im Rückblick schockierend und erschreckend, wie fahrlässig Management und Verantwortliche mit den ihnen anvertrauten Künstlern umgingen, beispielsweise indem sie deren Kräfte überbeanspruchten.

So gönnte man Jimi Hendrix, Bassist Noel Redding und Schlagzeuger Mitch Mitchell keine Verschnaufpause von ihrem hektischen Touralltag und setzte in Winterland kurzerhand zwei Shows an einem Tag an. Nicht wenige Stars zerbrachen an den krassen Anforderungen des Musikgeschäfts der 60er Jahre, das, unter diesem Aspekt betrachtet, überhaupt nicht als "gute alte Zeit" erscheint.

In einem auf CD 4 enthaltenen Interview vermittelt Hendrix ein eindrückliches Bild dieser Zwänge: Um relevant zu bleiben, mussten Bands ständig ein neues Hit-Album oder eine neue Hit-Single veröffentlichen. Wer sich diesem Druck nicht entzog, standhielt oder glücklich überlebte, endete in geistiger Zerrüttung wie Syd Barrett, Brian Wilson und Peter Green oder starb an den Folgen von Alkoholmissbrauch und Drogensucht wie Jimi Hendrix, Jim Morrison und Janis Joplin. Das war die Schattenseite der vielbeschworenen überbordenden Kreativität und rastlosen Experimentierfreude der 1960er.

Das 4-CD Box Set Winterland steht an der Schnittstelle zwischen Experiment und Konsolidierung. Es enthält eine Auswahl aus sechs Konzerten, die The Jimi Hendrix Experience im Verlauf von drei Tagen, und zwar vom 10. bis zum 12. Oktober 1968, in San Francisco spielten. Der Name Winterland bezieht sich auf den Veranstaltungsort, eine ehemalige Eisbahn, die von dem legendären Konzertveranstalter Bill Graham Mitte der 1960er Jahre in eine Konzerthalle umgewandelt wurde.

Ein kleiner Teil der Aufnahmen wurde zuerst 1987 als Live At Winterland veröffentlicht, eine komplette Version der Konzerte mit unklarer Legalität erschien vor einigen Jahren als 3 Nights At Winterland. Die neue Box hat gegenüber den älteren Versionen den Vorteil einer deutlich besseren Klangqualität – in der Tat klingen die Aufnahmen so gut wie überhaupt nur wenige Liveaufnahmen aus den 1960ern.

Die Winterland-Box erlaubt es deshalb, das Jimi Hendrix Experience auf dem Höhepunkt seines Schaffens zu bewundern. Begeisternd sind nach wie vor die Vielfalt der Ausdrucksformen von Hendrix Gitarrenspiel. Wie kein anderer Gitarrist vor oder nach ihm vermochte er zwischen einem eleganten, fast sanften Klang und einem schweren, gewaltigen Gitarrensound zu wechseln – manchmal sogar innerhalb desselben Liedes.

Seine Band behielt auch in den ausgedehnten Instrumentalpassagen eine gewisse Geradlinigkeit und Schnörkellosigkeit bei, sodass ihr Spiel nur selten selbstverliebt wirkt. Die Musik ist noch gänzlich frei vom Exzess der 1970er und lebt aus der Freude an der Entdeckung noch ganz neuer und ungewohnter Klänge.

Bestes Beispiel dafür ist der von den "two Swedish cats" Ingvar Hansson und Hugo Carlsson geschriebene Jam Tax Free, der in zwei sehr verschiedenen und eindrucksvollen Variationen enthalten ist. Von den übrigen Coverversionen überzeugen vor allem die glänzende Interpretation von Dylans Like A Rolling Stone vom 11.10.1968 sowie die Instrumentalversionen von Creams Sunshine Of Your Love. Zahlreich vertreten sind auch die Hendrix-Klassiker, wobei Songs von dem noch unveröffentlichten Electric Ladyland erstaunlich wenig enthalten sind. Stattdessen finden sich grandiose Versionen von Little Wing, Foxey Lady, Red House und dem selten gespielten Are You Experienced?

Nicht alles auf dieser Box verdient jedoch hohe Weihen. Vier sehr ähnliche Performances von Purple Haze sind schlichtweg Overkill, die langsame und schwerfällige Darbietung von Voodoo Child (Slight Return) verblasst neben besseren Versionen (beispielsweise derjenigen aus der Royal Albert Hall vom Februar des nächsten Jahres auf der Purple Box). Auch die Interpretationen der amerikanischen Nationalhymne zählen nicht zu Hendrix besten Momenten.

Obwohl die Zusammenstellung des Materials durchaus gelungen ist, wäre es besser gewesen, die überlegene Version von Spanish Castle Magic vom 11.10. nicht nur auf einer in Deutschland nur umständlich erhältlichen CD-Single zu veröffentlichen. Die Kritik von Komplettisten, man hätte besser die gesamten Konzerte veröffentlicht, ist jedoch unberechtigt, da viele fehlende Aufnahmen unvollständig sind oder unter technischen Problemen leiden, auf die Jimi Hendrix in seinen Ansagen auch immer wieder zurückkommt.

Allerdings entschieden sich die Macher der Box dafür, einige Performances zu editieren. Solche Entscheidungen sind unter Fans immer kontrovers und daher riskant. Meiner persönlichen Auffassung nach sind die Edits vertretbar, wenn auch teilweise unnötig.

Ob vier CDs zu viel oder zu wenig sind, muss letztlich jeder Hörer für sich selbst entscheiden. Allerdings vermittelt die Winterland-Box einen tiefen Eindruck der internen Dynamik der Band, den wechselnden Ausdrucksformen und auch der inneren Logik einer Abfolge von Konzerten, die sich nur im größeren Zusammenhang erschließt. Vor allem aber bietet sie eine enorme Menge von großartiger Musik zu einem fairen Preis.

Winterland ist neben der regulären 4-CD Version auch in einer 5-CD Variante erhältlich, die in Deutschland exklusiv bei jpc vertrieben wird. Sie enthält fünf Tracks von einem Auftritt des Experience am gleichen Ort im Februar des gleichen Jahres. Sie waren bereits auf einer Veröffentlichung des Experience-Hendrix-Mailorderlabels Dagger vertreten und lohnen sich sowohl in Hinblick auf die Qualität der Performances als auch auf die Klangqualität. 

Wertung: ++++ (von +++++)

 

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