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Noblesse Oblige im Interview im Museum Dahlem Berlin, 2010 © Nicole Richwald

Die Band Noblesse Oblige fand sich 2004 auf einem Maskenball in London zusammen. Hinter dem mittlerweile in Berlin lebenden Duo verbirgt sich die aus Frankreich stammende Valerie Renay und der deutsche Songwriter Sebastian Lee Philipp. Auf ihrem neuen Album "Malady" haben sich die beiden Musiker den Themen Okkultismus und Vodoukult gewidmet. Wir trafen Noblesse Oblige während der Ausstellung "Vodou - Kunst und Kult aus Haiti" im Museum Dahlem in Berlin.

{image}regioactive.de: Die Ausstellung ist der passende Rahmen, um über euer neues Album Malady zu sprechen, für das ihr euch stark mit dem Thema Vodoukult und Okkultismus und den verschiedensten Vertretern in Literatur und Film auseinandergesetzt habt. Wie kam es dazu?
Sebastian: Wirklich angefangen hat das, als wir für ein Londoner Kunstfestival gebeten wurden, uns an einem Tarotkartenprojekt zu beteiligen. Wir sollten im Prinzip zu zweit eine Tarotkarte interpretieren und für einen Fotografen darstellen. Wir haben dann "Die Liebenden" dargestellt.

regioactive.de: Habt ihr euch die Tarotkarte selbst ausgesucht?

Sebastian: Nee, die wurde uns zugeteilt. Da wir ja zu zweit sind war das auch die einzige Karte, die wir darstellen konnten. So fing das eigentlich an. Über die Tarotkarten haben wir dann Aleister Crowley entdeckt, der unter den Okkultisten ich sag mal der Prominenteste ist und schon viele Künstler, Musiker und Filmemacher beeinflusst hat. Über ihn kam dann auch das Interesse für okkulte Glaubensrichtungen und die Verwendung dieser Motive in der Kunst. Das hat uns beide sehr fasziniert, ohne zu dem Zeitpunkt wahnsinnig tief in das Thema eingetaucht zu sein. Dann interessierten wir uns immer mehr für das Thema. Irgendwann hatten wir entschieden, dass sich daraus ein Albumkonzept sehr schön entwickeln lässt. Hinzu kommt dann der Hintergrund, dass Valerie Teile ihrer Jugend auf Martinique verbracht hat und selbst mit den ganzen Vodougeschichten vertraut war, da sie den Kindern dort erzählt werden und sie somit auch Teile ihrer Kindheitserinnerungen verarbeiten konnte.

{image}regioactive.de: Auf eurer Website seid ihr gemeinsam als Songwriter aufgeführt. Ich hatte mir einen eurer Songs vom Album Malady ausgesucht, When Thunder Breaks Up Under, der sich in meiner Interpretation auf ein Aleister Crowley-Zitat bezieht, oder gibt es hier eine Mischung aus Interpretationen von euch beiden?

Sebastian: Ja, das ist richtig. Da steckt ein Zitat drin, das sich direkt auf Aleister Crowley bezieht. Eine große Inspiration für den Song war auch der Blues, der sehr mit den Südstaaten von Amerika assoziiert wird, wo Vodou ein sehr präsenter Teil der Religionen ist und dort auch praktiziert wird. Dieser Song ist ein gutes Beispiel, wie wir ausgewählt und die Sachen vermischt haben.

Valerie: Den Titel When Thunder Breaks Up Under sah ich im Traum, in Vodoutradition. Eine Menge Dinge kommen durch die Träume. Wir verbrachten einen Großteil damit, zu recherchieren und zu lesen: Wir brachten uns in die Welt des Vodous durch Filme, Clips und Videos und fühlten uns voll von diesen ganzen Informationen. Es ist wie wenn du ins Bett gehst und dann all diese Gedanken im Kopf hast und dann produzierst du diese Informationen. Irgendwann mitten in der Nacht schreibst du dann in dein Notebook solche Phrasen wie "When thunder breaks up under". Das war der erste Song, von dem wir die Melodie lange vorher hatten. Wir haben dann begonnen einen Song daraus zu machen, die Melodie war nicht genug dafür. Das war der Beginn dieses Songs und die anderen Teile kamen dann dazu, wie das Aleister Crowley-Zitat.

Sebastian: Der Song steht aber auch symbolisch für Gefühle, die ausbrechen. Er darf aber auch frei interpretiert werden.

Valerie: Viele Bedeutungen können darauf angewendet werden. Es ist interessant zu sehen, wie viele Einflüsse sich hier vermischen. Das haben wir auch gerade in der Ausstellung gesehen: Vodou ist eine Mischung aus vielen Sachen, z.B. dem christlichen Glauben, den Ureinwohnern Amerikas und auch Mexiko mit dem "Tag der Toten", all diese Dinge können zusammen kommen. Das haben wir ebenfalls bei diesem Album gemacht: unterschiedliche "Qualitäten" und Einflüsse zusammengenommen.

regioactive.de: Ein weiterer Song, über den ich mit euch sprechen will, ist The Great Electrifier. Hier bezieht ihr euch eher auf Christina Rosetti, eine Dichterin aus dem viktorianischen England, die also ein Jahrhundert vor Crowley gelebt hat. Diese Auseinandersetzung schlägt sich stark auf die Sprache im Text nieder. Was wollt ihr mit diesem Song ausdrücken?

{image}Sebastian: Der Song erzählt eher eine Geschichte. Ich hatte dabei immer eine Filmszene über eine Frau im Hinterkopf, die in einer etwas verruchten Opiumhöhle sitzt und dort auf einen Mann trifft, in den sie sich verliebt, der sich dann als Hexer oder Zauberer herausstellt und mit seinen magischen und auch erotischen Kräften manipuliert. Das Konzept des Electrifiers kam aus einem Buch eines Schriftstellers aus Haiti namens René Depestre. Ich fand die Idee so gut: das Elektrifizieren einer Seele, auch wenn das etwas sehr Abstraktes ist oder etwas, das man nicht unbedingt erklären kann. Es ist als bildliche Vorstellung wahnsinnig interessant, ich habe das als Manipulation der Seele gesehen und letztendlich ist das natürlich eine Form der Verführung, um die es in diesem Stück auch geht. Christina Rosetti war in dem Sinne inspirierend, weil ich ihre Gedichte einfach unglaublich mag. Die sind auch sehr traurig und deprimierend, aber wir haben keine Angst davor vielleicht ein bisschen kitschig zu sein oder auf Klischees anzuspielen. Die Gedichte wirken auch emotional einfach sehr. Wir haben dann bescheiden versucht diese Sprache in dem Stück umzusetzen.

regioactive.de: Die Motive und Symbole, die ihr für die Cover und Videos nutzt – Kerzen, Jesusbildchen und Totenköpfe: sind das Dinge von euch, die mit in die Gestaltung eingebracht werden oder kommen die Ideen eher von Grafikern und Filmemachern?

Valerie: Seit dem Beginn von Noblesse Oblige arbeiten wir auch an einer Gesamtästhetik der Sachen, die wir machen. Die Gestaltung und das Artwork um Noblesse Oblige ist uns sehr wichtig, weil es auch ein Kunstprojekt ist und nicht nur eine Band. Wir schauen uns viel um, wie wir die Musik visuell präsentieren können. Für mich, als jemand mit Schauspielhintergrund, ist auch der dramaturgische Aspekt sehr wichtig. Wir sind alle Filmliebhaber und nutzen das als Einfluss, wenn wir Musikvideos machen. Alle Symbole, Backgrounds, Farben und Stimmungen, all diese visuellen Entscheidungen haben einen Grund, auch die Entscheidung für die Idee zum Video. Die Zusammenarbeit mit Edwin Brienen lag auch daran, dass er sich ebenfalls sehr für Vodou und Kulte interessiert, das war perfekt. Er hat ziemlich gut verstanden wie wir arbeiten, die Konstellation hat gut funktioniert. Das Artwork für die Cover stammt von dem bulgarischen Künstler Kiril Bikov, den ich auf seiner Austellung kennengelernt hatte. Der Ausdruck seiner präsentierten Fotos hatte wunderbar zu unseren Vorstellungen von Atmosphäre gepasst.

regioactive.de: May They Come With Spears And Knives beginnt mit Vogelstimmen, Trommeln, tropischen Klängen und Dschungelgeräuschen. Bezieht es sich eher auf deinen Hintergrund, Valerie?

Valerie: Ja, das ist der selbe Sound wie zu Beginn des Albums. Das funktioniert hier eher wie ein Loop oder ein Kreis, der sich schließt. Wir wollten, dass das Ende an den Anfang erinnert. Wobei der Song am Ende eher aggressiver ist und an den freundlicheren Song am Anfang erinnern sollte.

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regioactive.de: Wir waren ja eben in der Ausstellung. Valerie, du hast als Teenagerin eine Zeit lang auf der französischen Karibischen Insel Martinique gelebt. Der Vodoukult ist dort präsent, wurde allerdings erst 2003 als Religion anerkannt und vorher geheim praktiziert. Deine Nachbarin war eine Vodoupriesterin. Welche Erinnerungen hast du an diese Zeit?

Valerie: Als ich damals nach Martinique ging, habe ich in einem sehr alten Haus gewohnt, das Haus meiner Großeltern. Eine Holzhütte mit Garten, hinter der eine weitere Holzhütte stand und Leute haben mir erzählt, dass die Frau, die dort alleine wohnte, eine Hexe oder Priesterin ist. Was sie dort betrieben hat, nennt sich kambala, das ist eine Art Magie, nicht gerade schlechte Magie, sondern auch gute. Das erste was mir gesagt wurde war, ich solle sie nicht anschauen. So habe ich immer nach unten gesehen, wenn sie mir auf der Straße begegnet ist. Ich war aber irgendwie gefesselt von dem, was sie tat, man konnte aber nichts sehen. Doch nachts konnte ich sie immer hören und riechen, sie hatte eine Menge Essenzen, die dann durch das offene Fenster herauszogen. Ich habe sie singen und schreien gehört während sie versuchte, in Trance zu geraten. Ich habe nachts Leute ins und aus dem Haus kommen sehen. Ihre Gesichter waren verhüllt, damit sie nicht erkannt wurden. Ich konnte nichts weiter sehen, aber man hat die Geschichten gehört, über ihre Kräfte und was sie macht und dass man sie besser nicht verärgert. Denn diese Leute haben auch immer Helfer, einfache Leute, die machen was sie wollen. Diese Leute kommen dann in dein Haus und streuen dir Sachen vor dein Bett und wenn du dann darüber läufst, kannst du am nächsten Tag nicht mehr laufen wegen des Gifts. Es gibt natürlich eine Menge Pflanzen, die du dort ganz einfach in der Natur finden kannst und diese Leute kennen eine Menge Techniken, z.B. Glas so klein wie Sand zu machen und dieses dann mit Gift zu mischen. So wurde mir gesagt, immer Schuhe zu tragen. Das ist nicht ausgedacht, das ist dort Teil der Realität. Das sind sehr starke Persönlichkeiten, aber was du jetzt gehört hast, sind die schlechten Seiten. Sie tun aber auch gute Dinge. Vodou ist eben Glaube, Mystik und Spiritualität, aber es ist auch real. Sie haben dieses unglaubliche Wissen und diese Techniken. Das sind die Geschichten, die man die ganze Zeit gehört hat und ich bekam irgendwie Angst.

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regioactive.de: Ja, gruselig. Du hast mir in der Ausstellung erzählt, dass du neulich nach neuen Instrumenten gesucht hast. Live und auf dem Album habt ihr eine Menge exotischer Instrumente, von denen ich noch nie etwas gehört habe!

Valerie: Ja, wir suchen immer nach interessanten Elementen, die wir live in die Musik bringen können. Die Basis unserer Musik ist allerdings elektronisch. Das ist manchmal live schwierig, weil wir nur zu zweit sind. Da sind wir sehr limitiert. Es ist aber interessant für uns Instrumente zu verwenden, die nicht so oft gespielt werden wie Percussions, Timbales, Mahakas und Bongos. Das ist die Krone des normalen Drum-Sets. Oder Kastanietten, die eher aus dem Spanischen kommen oder Ukulele, die in Portugal gespielt wird, aber auch in Hawaii. Wir beschränken uns nicht. Ich verwende in einem Song auch ein Kazoo, das aus Afrika stammt. Wir wollen viele Elemente in den Sound bringen, um ihn vielfältiger und reicher zu machen. Die Basis ist elektronisch und etwas kalt und so versuchen wir eben wärmere Elemente mit reinzunehmen. Die eignen sich auch gut für die Performance.

regioactive.de: Das aktuelle Album Malady hat ein klares Konzept. Ist das eine Arbeitsweise, die für euch typisch ist?

Valerie: Für jedes Album versuchen wir verschiedene Arbeitsweisen. Das ist allerdings das erste Album, bei dem wir uns eine gewisse Zeit für Nachforschungen zu dem Thema gegeben haben.

Sebastian: Für das erste Album gab es kein richtiges Konzept, da wir das kurz nachdem wir uns kennenlernten aufgenommen haben. Deshalb klingt das wahrscheinlich sehr spontan. Wir haben das schnell gemacht und auf den Punkt gebracht. Für das zweite Album, das wir aufgenommen haben als wir nach Berlin gezogen sind, war dann das Konzept, mit jedem Stück etwas anderes auszuprobieren. Das ist kein so eingängiges Album, sondern eher so, dass jedes Stück in eine andere Richtung geht – mehr eine Collage. Das haben wir im Studio entwickelt und es ist von der Instrumentierung her auch sehr verschieden. Beim neuen Album wollten wir genau das Entgegengesetzte machen: ein Album, das von vorn bis hinten schlüssig ist, vom Konzept und dem Thema. Wo die Songs aneinander anschließen und ineinander übergehen. Das war von den Texten und dem Inhalt auch eher so, dass man hier von einem Konzept wirklich reden kann.

{image}regioactive.de: Ihr habt sehr interessante Inszenierungen bei euren Live-Performances, wie ich es in der Kindl Brauerei erleben konnte. Was wollt ihr beim Publikum auslösen?

Valerie: Als wir angefangen haben an dem Album zu arbeiten, haben wir beschlossen, dass die Konzerte mehr zu einer Show werden sollen, theatralischer und dramatischer. Wir wollten eine Atmosphäre für jeden Song schaffen. Ich beginne mit dem Charakter der schwarzen mexikanischen Witwe, deren Figur von dem Film El Topo von Alejandro Jodorowsky inspiriert ist. Die Basis für mich ist hier die ersten Übergänge zu schaffen, da ist vielleicht ein DJ oder was auch immer, um dann die Konzentration und Aufmerksamkeit auf eine andere Ebene zu lenken. Die Idee ist dabei zu Beginn den Raum zu reinigen und dann mit den Gerüchen und den fünf Sinnen zu arbeiten. Auch bei dem Song Lady With The Kazoo ist der Charakter sehr von dem Mexikanischen und dem Western-Style inspiriert. In Equinox geht es dann eher um den Charakter der Heidin. Diese Übergänge und Verwandlungen passieren dann zu den Songs und es kommt immer mehr meine Person und Noblesse Oblige zum Vorschein. Ich behalte das bis zum Ende bei, wenn es zur finalen Verwandlung kommt.

regioactive.de: In Deutschland werdet ihr von einem 2-Mann Label aus Niedersachsen namens RepoRecords vertreten. Zwei Idealisten, die euch unterstützen. Wie ist es mit so einem kleinem Label zu arbeiten?

Valerie: Es ist fantastisch. Wir hatten ein englisches Label in London und als wir hierher gekommen sind, war es super das Label zu finden. Es ist schwer für kleinere Bands geworden, ein Label zu finden. Sie unterstützen uns sehr, in finanzieller und kreativer Hinsicht und machen uns keine Einschränkungen.

Sebastian: Zusammen mit dem Label haben wir 2008 Fördergeld von der Initiative Musik bekommen, das war wirklich ein Höhepunkt der Zusammenarbeit. Das hat die Veröffentlichung und die ganze Promo möglich gemacht. Klar ist das schwierig zu zweit ein Label zu betreiben, aber sie haben Wege gefunden, Musik wie unsere zu veröffentlichen.

regioactive.de: Wie geht es weiter mit Noblesse Oblige?

Sebastian: Das Album ist ja noch sehr neu für uns und auch was die Live-Shows angeht, entwickeln wir immer neue Sachen. Wir geben verschiedene Konzerte in Deutschland und auch in Rumänien. Demnächst wird Valerie in Portugal auf einem Theaterfestival eine Vodou-inspirierte Show aufführen, zu der ich dann die Musik machen werden. Also keine Noblesse Oblige-Stücke, sondern eher experimentelle elektronische Stücke.

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