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Jochen Distelmeyer (2016) © Sven Sindt

Jochen Distelmeyer überzeugt seine begeisterten Fans im Heidelberger Karlstorbahnhof mit sparsamen Interpretationen seiner englischsprachigen Lieblingssongs und demonstriert mit einigen Blumfeldklassikern, dass seine Band bis heute eine Sonderstellung in der deutschsprachigen Musik einnimmt.

Jochen Distelmeyer hat den deutschen Diskurs-Pop der Hamburger Schule™ mit Blumfeld Anfang der Neunziger co-initiiert. In knapp 15 Jahren hat seine Band nach einer atemberaubenden musikalischen Entwicklung vom schroffen Indierock über puren Pop bis hin zum gebirgsbachklaren Folk des letzten Albums "Verbotene Früchte" nahezu alles gespielt. Die aktuelle Coverplatte "Songs From The Bottom Vol. 1" kann für ihn daher nur ein Transit zum nächten Level sein.

Ein erstes, durchaus gelungenes, Soloalbum 2009, eine Blumfeld Kurz-Reunion und ein vom Feuilleton nicht gerade mit Lorbeeren versehenes Schriftstellerdebut, hat der 48-Jährige immerhin schon hinter sich gebracht. An diesem Abend beweist der gebürtige Ostwestfale und Wahl-Berliner aber, dass er sowohl mit erlesenen Coverversionen aus fast 50 Jahren Musikgeschichte als auch mit einem markanten Kurz-Set aus einigen Blumfeld Klassikern bei seinem Publikum immer noch in höchster Gunst steht.

Vom Chartpop bis zum Abgrund

Im fast ausverkauften bestuhlten Heidelberger Karlstorbahnhof betritt Distelmeyer mit der akustischen Gitarre und zusammen mit seinem Keyboarder gegen 21:15 Uhr die Bühne. "On the avenue", ein Spätwerk der schottischen Band Aztec Camera um Roddy Frame ist ein denkbar geschmackvoller Auftakt des rein englischsprachigen Coverabends, bei dem er sein aktuelles Album vorstellt.

Dieses entstand auf Anraten seiner Fans nach der Lesereise zu seinem Romandebut "Otis" und könnte der Auftakt für eine Reihe von Coveralben werden. Mit "Tragedy" von den Bee Gees legt Distelmeyer ironiefrei nach und verzichtet bewusst auf das hohe Falsett von Robin Gibb. Auch Supetramps "Take the long way home" kauft man dem ewigen Dandy mit glockenklarer Stimme ab. Chartpop der Siebziger reiht er genauso neben Protestsongs von Pete Seeger als auch Abgründigem wie "Pyramid Song" von Radiohead. Reduzierter Funk und Soul (Marvin Gaye) finden ebenfalls ihren Platz als akustische Neuinterpretationen.

Beatz & Grooves skelettieren

Es sind die Nuancen in den Fremdkompositionen, die an diesem Abend das Salz in der Suppe sind, wenn Distelmeyer beim Skelettieren der Songs immer wieder Artverwandtes sucht und mit dem jeweiligen Song verbindet.

Ob bei Britney Spears "Toxic", Steely Dan mit "Do it again" durschimmern oder bei Aviciis "I could be the one" kurz Moloko mit "Familiar Feeling" vorbeischauen – Distelmeyer verbindet das alles sehr elegant und arbeitet dabei den Beat, Groove oder gar die Seele heraus; sei der Song auch noch so knallhart für den Markt kalkuliert.

Nonchalanter Entertainer mit Popsachverstand

Das Publikum soll bei den Refrains mithelfen und die Zweimann-Band unterstützen, was auch gerne angenommen wird. Distelmeyer spricht mit angenehmer Stimme zwischen den Songs, macht ein paar kichernde Bemerkungen ("Alles tutti?"), ist angetan von der Resonanz und lässt die Souveränität seiner vielen Bühnenjahre nie routiniert wirken.

Es ist erhellend, wenn er zwischen den Songs ein paar Details und Beweggründe erzählt, längst vergessene Bandnamen wie Rockpile oder Dr. Feelgood ins Spiel bringt wenn es um Nick Lowes "I read a lot" geht. Es ist schlichtweg ergreifend, wenn er aus "Bittersweet Symphony" eine klagende Folkprotesthymne zimmert.

Auch einem fast totgespielten "Video Games", einer bereits im Rückspiegel der Musikgeschichte verblassenden Lana Del Rey, setzt Jochen Distelmeyer noch mehr dunkle Tiefe, Leidenschaft und bittere Süße entgegen. Ganz nebenbei spielt Distelmeyer eine wahnsinnig ausdrucksstarke, halbakustische Gitarre mit traumwandlerischer Sicherheit. Das gebannt zuhörende Publikum ist hin und weg.

Blumfeld-Klassiker im Folkgewand

Bereits nach einer Stunde findet man sich im Zugabeteil wieder, der dann auch ein paar Blumfeldklassiker aus fast allen Bandphasen parat hält. Distelmeyer wirkt entspannt und ganz bei sich, wenn er die angezündete Zigarette an den Gitarrenhals steckt und das famose "1.000 Tränen tief" spielt. Das Spätwerk der Band hält dabei den kritikumjubelten Anfangskrachern wie "Ich – wie es wirklich war" stand. "Wir sind frei" vom unterschätzten "Jenseits von Jedem" ist auch in schlankerer Form großer Pop. Über die selten gehörte Ode an den "April", bei dem der Sänger im Pantheismus förmlich badet, freuen sich an diesem Abend nicht wenige Altanhänger.

Zum Abschluss hat der Hamburger Dichter dann noch eine wirklich außergewöhnliche Verneigung für die Fab 4 im Köcher und interpretiert tatsächlich, das bei Beatles-Fans heftig umstrittene "Free as a bird", weil Sir Paul Mc Cartney seinem alten Freund John Lennon damit einen treuen Dienst zum Abschluss der Beatles erwiesen habe. Es folgt eine bewegende und reduzierte Version der Lennon Demoskizze. Großer Applaus und Abgang von einem der immer noch größten deutschen Popdichter der Gegenwart!

Setlist

On the avenue / Tragedy / Take the long way home / Toxic / Pyramid song / I read a lot / Shot in the arm / Killer / Video Games / I could be the one / Let’s stay together / Bitter sweet symphony / 1.000 Tränen tief / Ich – wie es wirklich war / Wir sind frei / What’s going on / Kommst du mit in den Alltag / April / Free as a bird

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