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Steven Wilson (live in Neu-Isenburg, 2015) © Leonard Kötters

In der ausverkauften Hugenottenhalle in Neu-Isenburg präsentiert sich Steven Wilson in ungewöhnlich gelöster Stimmung und bietet dennoch einen konzentrierten zweistündigen Auftritt, in dessen Mittelpunkt sein neues Album steht. Aber Wilson denkt natürlich gar nicht daran, es dabei zu belassen.

Nur selten schaffen es Prog-Rocker mit ihren Veröffentlichungen in die oberen Ränge der deutschen Charts. Steven Wilson ist das mit seinem neuen Album "Hand.Cannot.Erase" gelungen: es erreichte #3 der deutschen Albumcharts. Kein Wunder, dass seine Deutschlandtour komplett ausverkauft ist.

Sein Publikum ist im Vergleich zu seinen letzten Tourneen deutlich gewachsen. Auffällig ist vor allem der größere Anteil von Frauen, die nicht aussehen, als habe sie ihr Partner zum Mitkommen gezwungen – wie Wilson scherzt.

Mitteilsamer Protagonist

Überhaupt zeigt sich Wilson überraschend mitteilsam und humorvoll. So amüsiert er mit der Bemerkung, er habe auch Songs im Programm, die kürzer als 10 Minuten seien. In der Tat, nicht jedes Lied ist episch. Vor allem sein neues Album, das er zur Gänze spielt, zeichnet sich durch Songdienlichkeit und Stringenz aus.

Natürlich dürfen die Brüche, Dynamik- und Tempowechsel, kurz: die komplexe Struktur des Prog-Rocks in einem Steven-Wilson-Konzert nicht fehlen. Aber insgesamt hat Wilson noch kein Album veröffentlicht, dessen Gesamtbild so harmonisch, so ausgewogen wirkt. Während "The Raven Refused To Sing" manchmal noch etwas verkopft daherkam, besitzt "Hand.Cannot.Erase" eine emotionale Tiefe, die auch in der Komplettaufführung seines neuen Albums besticht.

Gelungene Visualisierungen

Diese wird noch gefördert durch die Visualisierung der Musik mit Hilfe von Videos, die Wilson seit jeher sehr wichtig ist. Besonders gelungen ist die Visualisierung des Songs "Routine". Das zugehörige Video zeigt eine Mutter, die in aller Einsamkeit und Verzweiflung die Routine einer ausgelöschten Familie aufrechterhalten will. Das ist umso beeindruckender, weil Wilson den Song zweimal abbricht und kurzzeitig Mühe hat, unter den Scherzen seiner Band und dem Gelächter des Publikums seine Konzentration nicht zu verlieren.

Trotz der thematischen Schwere wirkt die Musik häufig elegant, selbst in den lauten Passagen. Seine exzellente Band sorgt dafür, dass sich die Musik nicht in Gefrickel verliert, sondern setzt die ausgefeilten Arrangements geradezu leichtfüßig um. Auch die epischen Instrumentalpassagen und Gitarrensoli wie in "Regret #9" oder "Ancestral" fügen sich stimmig in das Gesamtkonzept ein.

Die anderen Songs

In die Gesamtaufführung von Hand.Cannot.Erase streut Wilson ältere Songs von Porcupine Tree und seinen übrigen Soloalben. Das gelingt mal besser, mal schlechter. Der ruhige PT-Song "Lazarus" fügt sich harmonisch in den Rahmen der neuen Musik ein, auch weil er thematisch verwandt ist, wie Wilson betont. Das abschließende "The Raven That Refused To Sing" gerät zu einem Highlight, auch weil die Gesangsstimme präsenter ist als auf der Studioversion.

Hingegen wirkt "The Watchmaker" mit seiner wenig harmonischen, allzu fragmentierten Struktur wie ein Fremdkörper in einem ansonsten auf Ausgewogenheit ausgerichteten Set. Auf "Harmonie Korine" hätte Wilson ebenfalls verzichten können, obwohl er den Song offensichtlich sehr liebt. Mit seinen Shoegaze-Elementen passt er aber stilistisch nicht wirklich in das Gesamtkonzept.

Kreativ und eigenständig

Dennoch zeigen diese Elemente Steven Wilsons Kreativität und Experimentierfreude. Kleinere Missgeschicke ändern rein gar nichts am positiven Gesamteindruck. Wenige Künstler verstehen es, Prog-Rock so phantasievoll, elegant und unterhaltsam zu gestalten wie Steven Wilson.

Am Ende erheben sich die Zuschauer in der komplett bestuhlten Hugenottenhalle von ihren Plätzen und spenden Standing Ovations. Steven Wilson hat sie verdient, er hat geschafft, modernen und vor allem eigenständigen Prog-Rock zu schaffen, der nicht im Kontext der 1970er gefangen ist.

Setlist

First Regret | 3 Years Older | Hand Cannot Erase | Perfect Life | Routine | Index | Home Invasion | Regret #9 | Lazarus | Harmony Korine | Ancestral | Happy Returns | Ascendant Here On... || The Watchmaker | Sleep Together | The Raven That Refused to Sing

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