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Klavierkonzert auf dem Taksimplatz: Respekt, Davide Martello! Lisa Schwegler fotografierte seinen Auftritt in der Nacht von Freitag- auf Samstag (15.6.13) © 2013, Lisa Schwegler (www.lisaschwegler.de)

Oliver Hinkelbein ist Ethnologe an der Universität Bremen. In seinem Weblog dokumentiert er üblicherweise, welche Themen ihn beruflich beschäftigen. Durch einen Trip nach Istanbul erlebte er die Proteste und die Polizeigewalt im Gezi Park sowie auf dem Taksim Platz in der vergangenen Woche hautnah mit und berichtete auch darüber. Kaum zurück wurde er per Livestream Zeuge, wie ein Mann und sein Klavier an diesem Ort fürchterlicher Auseinandersetzungen für eine ganz besondere Gänsehautstimmung und etwas Beruhigung sorgten. regioactive.de veröffentlicht hier seinen Bericht und Fotos von Lisa Schwegler, die Davide Martello in der Nacht von Freitag auf Samstag fotografierte.

 

“Die gerade Linie ist eine vom Menschen gemachte Gefahr. Es gibt so viele Linien, aber nur eine von ihnen ist tödlich, und das ist die gerade Linie, die mit dem Lineal gezogen ist. Die Gefahr durch die gerade Linie lässt sich nicht mit der Gefahr durch organische Linien vergleichen, die zum Beispiel Schlangen machen. Die gerade Linie ist dem Menschen, dem Leben, der gesamten Schöpfung wesensfremd.“
(Friedensreich Hundertwasser, 1928-2000)

 

Noch immer habe ich den bestialischen Gewaltausbruch und die beispiellose Tränengasorgie der Istanbuler Polizei vor Augen. Den ganzen Dienstag und in der Nacht auf Mittwoch hat die Welt gesehen was es bedeutet, wenn dem türkischen Ministerpräsidenten der Geduldsfaden reißt. Er dulde es nicht mehr, dass angebliche Vandalen und Extremisten den öffentlichen Raum besetzen. „Die Zeit der Toleranz sei nun vorbei“, hatte er verlautbaren lassen. Weit über tausend Polizisten wurden auf das Gebiet rund um den Taksimplatz und den angrenzenden Gezi Park geschickt. Geradlinig und unverbesserlich wie wir ihn kennen trotzt er jeglicher Kritik.

Ausgerüstet mit Panzerwagen und Wasserwerfern hatten die Verantwortlichen die Polizei auf rund 30.000 Demonstranten gehetzt, die seit nunmehr über zwei Wochen öffentlich für eine Abkehr von einer diktatorischen Politik eintreten. Über 70 Anwälte, die gegen den bisher brutalsten Polizeieinsatz vor dem Istanbuler Hauptgericht Protest einlegen wollten, verhaftete man unter Gewaltanwendung.

Die Demonstranten und Besetzer der besagten Örtlichkeit wurden mit Tränengasbomben beschossen, von der Polizei geschlagen, verhaftet oder vertrieben. Hunderte von Verletzten gab es. Auf die scharfe Kritik im In- und Ausland reagierte die türkische Regierung lediglich damit, dass man sich von niemandem hineinreden lasse und dass es auch nichts zu kritisieren gebe. Schließlich sei die Türkei „eine Demokratie erster Klasse“.

Mit dem Klavier für Frieden und Verständigung eintreten

Trotz der bestialischen „Säuberungsaktion“ kehrten die Menschen am Mittwoch wieder zurück in den Gezi Park. Auf dem Taksimplatz herrschte am Mittwoch und Donnerstag zunächst fast schon eine gespenstische Ruhe. Erdogan selbst wurde nicht müde vom Ende seiner Geduld zu sprechen.

Er rief die Eltern in Istanbul, insbesondere die Mütter dazu auf, ihre Söhne nach Hause zu holen. Diese quittierten seinen Aufruf dadurch, dass sie selbst auf den Taksim und in den Gezi Park kamen um symbolisch zu zeigen, dass sie stolz auf ihre Kinder sind – auf ihren Einsatz und ihren Mut.

Mitten in diesen Ereignissen tauchte am Mittwoch plötzlich der Komponist und Künstler Davide Martello in Istanbul auf.

Meydan (Square) Gezi Parkı Belgesel Filmi / Documentary Film | (weitere Videos von Davide Martello live auf dem Taksim: youtube-Link 1, youTube-Link 2)

Tausende lauschten den Darbietungen

Davide Martello lebt aktuell in Berlin und kommt aus Konstanz am Bodensee. Auf seiner Facebook-Seite ist zu lesen, dass er musikalisch von den Beatles, John Lennon und Sven Väth beeinflusst ist. Sein wichtigstes Projekt nennt er liebevoll „Klavierkunst“, dessen Hauptziel es ist, mit seinem „großen Piano“ in allen Hauptstädten dieser Welt zu spielen.

Sein Projekt ist inspiriert von der Straßenmusik in Dresden und den dortigen behördlichen Auflagen für Straßenmusik. Man kann Davide Martello weder buchen noch engagieren. Er entscheidet immer selbst über die Orte, an denen er auftritt. Seine Mission ist es, mit seiner Klavierkunst für Frieden und Verständigung einzutreten.

Von einem Konzert in Sofia kommend reiste er am Mittwoch in die Stadt am Bosporus. Inwiefern diese Idee spontan zu Stande kam oder geplant wurde kann ich an dieser Stelle nicht beurteilen. Noch in Sofia hatte er am Dienstag seine Reise auf seiner Facebook-Seite mit den folgenden Worten angekündigt:

„I will come tomorrow to Istanbul and I will change the mind of this conservative politicians trough my compositions. and acceptance rules the world and not economy!!! I will play for the police and the people because we are all one family!
Peace and freedom all over the world!!!!“

Seit seiner Ankunft spielt er nun unermüdlich auf dem „großen Piano“. Am Mittwochabend hat seine künstlerische Unterstützung im Gezi Park begonnen. Und apropos Polizei. Diese begann sich im Verlaufe des Donnerstags rund um den Taksimplatz und Gezi Park neu zu formieren. Dutzende Fahrzeuge und Hundertschaften waren zu sehen. Natürlich postierten sich auch wieder Wasserwerfer. Es war zu vermuten, dass Erdogan erneut angeordnet hat den Platz zu stürmen. Ähnliches war den Aussagen des Provinzgouverneurs von Istanbul Mutlu zu entnehmen.

Doch plötzlich war am Donnerstagabend auf dem Taksimplatz Davide Martello mit seinem Piano zu hören. Auch andere Künstler beteiligten sich. Wieder kamen Tausende und lauschten den Darbietungen. Spontan begannen einige Leute zu tanzen. Ich selbst verfolgte den musikalischen Abend auf einem der zahlreichen Livestreams. Es herrschte Gänsehautstimmung.

Vielleicht hat auch Davide Martello seinen kleinen Beitrag dazu geleistet, dass es gestern Nacht in Istanbul weitestgehend ruhig blieb und die Polizei sich zurückhielt. Vor ihm, den anderen Künstlern und allen anderen Beteiligten ziehe ich meinen Hut. In einer so angespannten Lage gehört viel Mut und Zivilcourage dazu, sich einfach auf den Taksimplatz zu setzen, Musik zu machen und damit ein Zeichen der Solidarität zu setzen.

Respekt, Davide Martello und allen anderen, die dabei waren!

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(Originalquelle: hinkelbein.info – Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors. Fotos: Lisa Schwegler)

Nachtrag: Davides Team hat ein Crowdfunding-Projekt gestartet.

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